Erinnern Sie sich noch an den 5. Oktober 2008? Das war der Tag, an dem sich Bundeskanzlerin Angela Merkel gemeinsam mit Finanzminister Peer Steinbrück im Kanzleramt vor Mikrofonen aufbaute und versprach: »Die Bundesregierung sagt am heutigen Tag, dass wir nicht zulassen werden, dass die Schieflage eines Finanzinstituts zu einer Schieflage des gesamten Systems wird. Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind. Auch dafür steht die Bundesregierung ein.«
Zuvor hatten sich zahlreiche Banken mit teils dubiosen Finanzgeschäften an den Rand des Ruins spekuliert. Doch das individuelle Versagen der Kapitalwirtschaft wurde großzügig von der Allgemeinheit aufgefangen. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler kostete die Bankenrettung über 60 Milliarden Euro, möglicherweise noch deutlich mehr.
An diesem Donnerstag will sich die geschäftsführende Bundeskanzlerin Merkel mit ihrem geschäftsführenden Finanzminister und wahrscheinlichen Nachfolger Olaf Scholz wieder im Kanzleramt vor Mikrofonen aufstellen. Nach allem, was man hört, wird sie Folgendes verkünden: »Die Bundesregierung sagt am heutigen Tag, dass wir nicht zulassen werden, dass die Coronakrise zu einer Krise des gesamten Gesundheitssystems wird. Wir sagen den Beschäftigten des Gesundheitssektors zu, dass wir alles Geld in die Hand nehmen, um die Belastungen zu lindern. Wir sagen zu, das Personal für die Dauer der Pandemie so zu entlohnen und die Arbeitsbedingungen akut so zu verbessern, dass für all jene ein Anreiz besteht, wieder in den Job zurückzukehren, die ihn verlassen haben. Auch dafür steht die Bundesregierung ein.«
Haha, schön wär’s, Sie merken schon, das wird nie passieren. Anders als bei der Bankenkrise haben wir es diesmal nicht mit individuellem Versagen einer Branche zu tun, sondern mit einer Naturkatastrophe – nichts anderes ist Covid-19. Doch im Gegensatz zu 2008 glaubte die Politik diesmal lange nicht, dass es eines solchen Auftritts wie 2008 bedurfte. Dass kurzfristige Lösungen hermussten, dass es einen Krisenstab gebraucht hätte, dass die Krankenhäuser und die Beschäftigten akut Hilfe benötigten.
Es ist etwas faul in einem Land, das zulässt, den Gesundheitssektor mit seiner Daseinsfürsorge derart hängenzulassen – mit allen absehbaren Folgen, die das hat.
Ein SPIEGEL-Team hat mit zahlreichen Pflegerinnen und Pflegern gesprochen, die schwer kranke Covid-Patienten betreuen. Sie berichten von ihrer Angst vor einem Horrorwinter mit stark steigenden Kranken- und Todeszahlen – und von ihrer eigenen Überlastung und Hilflosigkeit.
Stattdessen sagte Merkel zuletzt in ihrer regelmäßigen Online-Videoansprache, es seien jetzt »sehr schwierige Wochen, die vor uns liegen«. Wir müssten nur »zusammenstehen«. Zum wievielten Mal hat sie das jetzt gesagt? Zum wievielten Mal appelliert? Und wie lang sollen die Kräfte eigentlich noch halten – vor allem bei den Beschäftigten in den Krankenhäusern? Stattdessen fuhr die Kanzlerin nach Griechenland, nach Frankreich, in den Vatikan, um Lebewohl zu sagen. Stattdessen empfing sie die dänische Königin im Kanzleramt zum Kaffeekränzchen, den portugiesischen Premierminister Costa und den lettischen Ministerpräsidenten Kariņš zum Abendbrot. Auf das Gesundheitspersonal musste das wirken wie ein ausgestreckter Mittelfinger. Vor allem, wenn es noch die Bilder im Kopf hat, mit welchem Ernst vor 13 Jahren die Bankenbranche vor dem Kollaps gerettet wurde.
Wir haben 100.000 Coronatote in Deutschland zu beklagen. Ja, die Regierung hat schon vorher reagiert. Sie hat im vergangenen Jahr ein Konjunkturpaket in Höhe von 130 Milliarden Euro verabschiedet. Damit wurde in erster Linie die Wirtschaft gestützt. Jetzt aber haben wir es mit einer neuen Situation zu tun.
Vor der letzten Ministerpräsidentenkonferenz, am 12. November, veröffentlichten insgesamt 35 führende Medizinerinnen und Mediziner und andere Fachleute aus ganz Deutschland einen Brandbrief. Die derzeitige pandemische Situation habe das Potenzial, »die Situation aus dem Frühjahr und vergangene Wellen in den Schatten zu stellen«. Sie forderten, die Politik müsse endlich »ihrer Verantwortung umfassend gerecht werden«.
Die Ampelkoalitionäre haben einen erneuten Bonus für Pflegekräfte versprochen. Insgesamt eine Milliarde Euro beabsichtigen sie dafür auszugeben. Das wird nicht reichen, die Prämien für vorgehaltene Intensivbetten auch nicht.
Das Krankenhaussystem läuft Gefahr, zusammenzubrechen. Das Personal in den Kliniken ist am Ende und quittiert den Dienst. Auch im ambulanten Bereich stiegen die Patientenzahlen; die Infektionssprechstunden seien überfüllt. »Die Arbeitslast liegt auch dort seit Monaten über 100 Prozent.«
Vorschläge liegen genügend auf dem Tisch. Von Gernot Marx, dem Präsidenten der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), stammt unter anderem die Idee, dem Intensivpflegepersonal für die Dauer der Krise die Einkommensteuer zu erlassen. Andere fordern, vorübergehend die Strafzahlungen auszusetzen, die Krankenhäuser entrichten müssen, wenn sie mehr Patienten aufnehmen, als der Mindestpersonalschlüssel erlaubt.
Nichts von alledem wird kurzfristig umgesetzt, geschweige denn überhaupt diskutiert. Das erzeugt Wut. Wut bei denen, die sich solidarisch gezeigt haben und sich impfen ließen, Wut bei jenen, denen sich den zweiten Herbst und Winter existenzielle Fragen stellen, Wut bei den rund 3,6 Millionen Menschen, die im Gesundheitswesen mit direktem Patientenkontakt arbeiten. Es sollte der Politik zu denken geben, wenn die Geschäftsführerin eines Krankenhauses öffentlich sagt: »Ich bin Demokratin durch und durch. Aber es macht mich schon fassungslos, dass wir in diese Lage geraten sind.« Gibt es der Politik nicht zu denken, sendet sie das Signal: Die Banken waren systemrelevant, das Gesundheitswesen ist es nicht. Es ist die Perversion des kapitalistischen Systems.
Damals, 2008, sorgte die Garantie Merkels dafür, dass Sparerinnen und Sparer nicht ihr ganzes Geld von den Konten abhoben und so das Bankensystem zum Einsturz gebracht hätten. Diesmal, 2021, sollte es eine »Merkel-Garantie« dafür geben, dass Beschäftigte in den Kliniken mehr Geld auf ihren Konten vorfinden, das sie abheben können. Sonst wird das Gesundheitssystem einstürzen.
Das System des Zusammenlebens funktioniert so lange gut, solange es einen einigermaßen fairen Ausgleich der Interessen gibt. Wenn das aber – wie jetzt – nicht mehr klappt und die Pflegerinnen und Pfleger sehen, dass man den Bankern damals das Geld hinterhergeworfen hat für ihre Zockerei, während für ihre Schufterei kaum Geld da ist, dann ist der Kapitalismus moderig, dann fault er, dann zersetzt das langfristig eine Gesellschaft.
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